Der Nachbericht zum Diskurs mit der Frage:
Wir und die anderen.
Wie viel Vielfalt müssen wir aushalten?

Die Gesellschaft ist gespalten. Diesen Befund hören wir öfters. „Wir und die anderen“ hat als Denkmuster in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. In gesellschaftspolitischen Debatten geht es immer stärker auch um Fragen der Identität, der Würde und der Anerkennung. Gesellschaftliche Bruchlinien werden auch am Thema Migration deutlich. Sie verlaufen nicht mehr nur zwischen arm und reich oder links und rechts. Die Spaltung verläuft auch zwischen Lebenseinstellungen, Traditionen und Werten. Es geht um nichts Geringeres als den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Oft emotional geführte Diskussionen über die Fremden und wie viele davon unsere Gesellschaft „verträgt“, bis man sich “fremd im eigenen Land” fühlt, machen deutlich, wie dringend wir darüber diskutieren müssen, was uns zusammenhält und wie wir als Gesellschaft mit der zunehmenden Vielfalt umgehen können.

Wieviel Vielfalt müssen und wollen wir aushalten? Wie offen wollen wir sein und für wen? Welche Voraussetzungen braucht es dafür? Und wie können wir Zusammenhalt stärken?

Das Projekt „überMorgen. Der gesellschaftspolitische Diskurs“ hat in seiner 7. Veranstaltung die Zukunft der Gesellschaft im Kontext von Vielfalt thematisiert. Dazu haben wir am 12. November 2019 auf Einladung von Bürgermeister Peter Eisenschenk ins Atrium Tulln zum Diskurs eingeladen.

Das waren die Diskurse am Tisch

Besonders hat es uns gefreut, zwei Schulklassen der HAK/HAS Tulln bei uns begrüßen zu dürfen. In vier Impulsen boten diesmal auch gleich vier ExpertInnen den diversen Gruppen an DiskutantInnen Futter für den Austausch an den Tischen und in den Sesselkreisen.

Kenan Güngör, Soziologe und Politikberater, regte dazu an, genauer hinzuschauen und zu differenzieren, denn: „Vielfalt ist in vielfältiger Weise vielfältig“. Für ihn sei alle Vielfalt in Ordnung, solange sie nicht den Menschenrechten, den Grundrechten widerspräche. Je vielfältiger die Bevölkerung, umso stärker dränge sich aber auch die Frage nach der gemeinsamen Geschichte und Tradition auf, die dann immer weniger Menschen teilen würden. Güngör wünscht sich für die Zukunft eine resiliente Gesellschaft, die in der Lage wäre, mit derartigen Herausforderungen umzugehen.

Marion Carmann, Diversitätsexpertin bei AMS Niederösterreich, vertrat die Überzeugung, dass Betriebe es sich heute nicht mehr leisten können, auf Menschen mit Migrationshintergrund zu verzichten.  9 von 10 österreichischen börsennotierten Unternehmen beschäftigen sich mit Diversität. Die Auseinandersetzung mit Vielfalt könne unter anderem zu einer produktiveren Gesamtatmosphäre im Unternehmen führen sowie neue Märkte und Zielgruppen erschließen. Qualifizierte Zuwanderung sei auch für den aktuell hohen Fachkräftebedarf notwendig und nicht zuletzt, um nicht „auszusterben“: „Allein um die Bevölkerungszahl konstant zu halten, brauchen wir jährlich rund 20.000 Menschen, die zu uns kommen, und um die Bevölkerung um erwerbsfähigen Alter aufrecht zu erhalten, brauchen wir 50.000 Menschen im Jahr, die zuwandern.“

Manuela Vollmann, Geschäftsführerin und Gründerin von ABZ*AUSTRIA, gab zu bedenken, dass Diversität nicht nur im Zusammenhang mit Migration gedacht werden dürfe. Auch reiche ein Bekenntnis zu Diversität nicht, wenn sie sich nicht auch in der Praxis zeige: „Es sind nur 8,4% Frauen in Vorständen von Unternehmen in Österreich und nur 18,5% Frauen in den Aufsichtsräten.“ Mit ihrem Verein engagiert sich Vollmann für die Gleichstellung von Frauen und Männern am Arbeitsmarkt, in der Wirtschaft und in der Bildung. Sie riet, Ressourcen in den Vordergrund zu stellen, weil das Vielfalt lebendig mache – „Wenn ich auf Defizite schaue, dann wird es eher ein Sorgenthema“.

Kay Welber, Community Manager und Gründungsmitglied von YEP – Stimme der Jugend, hat sich beim Lesen des Veranstaltungstitels „Wir und die anderen“ an seine Schulzeit in einem Wiener Gymnasium erinnert. Er habe erst lernen müssen, dass die benachbarte Hauptschule nicht – wie Gerüchten zufolge – Ort regelmäßiger Messerstechereien und Polizeieinsätze wäre, sondern dass man mit diesen „anderen“ Schülern auch Freundschaften schließen könne.Durch’s Reden kommen d‘Leut’ zam – dieser Philosophie hat sich YEP verschrieben. Unter dem Motto „if it’s about them, don’t do it without them“ möchte YEP junge Menschen mit ihren unterschiedlichen Meinungen zusammenbringen, Wahrnehmungsblasen durchbrechen und Mitbestimmung fördern.

In den Kleingruppen den Tischen war man sich darüber einig, dass Vielfalt alle Bereiche des Lebens durchdringt und es daher nicht nur von Seiten der Politik oder der Unternehmen, sondern von jeder/jedem Einzelnen respektvollen Umgang mit anderen braucht. Einen positiven Blick in die Zukunft gab es jedenfalls von mehreren Seiten – so notierte ein Diskutant: „Wir sind Zufallsprodukte unserer Sozialisierung, aber: LERNFÄHIG.“

Was müssen wir heute tun, um eine Gesellschaft, in der Vielfalt und Zusammenhalt wirkt, zu schaffen? Mit dieser Frage setzten sich die SchülerInnen der HAK Tulln auseinander. Die Antworten waren vielfältig und zeigen, dass es jedenfalls nicht an Lösungsvorschlägen mangelt:

Das waren die Kontroversen am Podium

Kenan Güngör, bemängelte, dass der kritische Diskurs, den er sich zum Thema Diversität wünsche, zu oft ins Gehässige kippe. Zusätzlich betonte er: „Das eigentliche Problem ist nicht, dass wir unterschiedliche Identitäten haben, sondern dass wir uns auf EINE Identität reduzieren. Ich bin zum Beispiel nur Österreicher. (…) Wir leben in einer pluralen Gesellschaft, aber ohne Pluralitätsfähigkeit.”

Dass es keine rein arbeitsmarktpolitisch gesteuerte Zuwanderung gäbe, betonte Johannes Kopf, Jurist und Vorstand des AMS Österreich. Auch Flucht, Familiennachzug und der Wunsch nach Aus- und Weiterbildung seien Gründe vieler Wanderbewegungen. Zuwanderung in allen Facetten brauche die Gesellschaft jedenfalls, um das Sozialsystem erhalten und der Überalterung entgegenwirken zu können. Eine ständige Herausforderung wäre die Arbeit am gemeinsamen „Wir“, denn die Angst vor dem Anderen scheine also nicht komplett vermeidbar, nur der Rahmen würde verändert werden. Eine wirksame Argumentation könne die ökonomisch sein: Nicht Integration kommt uns teurer als Integration. Das würde verstanden.

„Man hat kein Recht darauf, in einer homogenen Gesellschaft zu leben“, stellte Corinna Milborn, Info-Chefin von PULS 4, Moderatorin und Autorin, fest. Österreich wäre immer schon ein Einwanderungsland gewesen, Europa immer schon ein Einwanderungskontinent – seit Jahren würde man sich aber weigern, sich dazu zu bekennen. Die Journalistin gab aber auch zu bedenken, dass die Medien auch nicht sehr gut mit Diversität umgehen würden.

Dass die Industrie sich schon lange mit Diversität beschäftige, betonte Thomas Salzer, Präsident der IV Niederösterreich. „Wir sind es auf der Marktseite gewohnt, uns mit verschiedenen Kulturen auseinandersetzen zu müssen, um erfolgreich zu sein.“ so Salzer. Für den Unternehmenserfolg sei es zudem wichtig, dass die Stimmung in der Bevölkerung passt. „Unternehmen brauchen ein Umfeld, in dem Zuwanderung möglich ist.“ Salzer plädierte dazu für einen gemeinsamen rechtlichen Rahmen für alle Mitglieder unserer Gesellschaft, merkte aber auch an, dass sich dieser Rahmen auch ändern würde, je bunter eine Gesellschaft werde.

„Es gibt viele Jugendliche, in Wien und auch hier heute beim Diskurs, die sagen sie gehören nicht dazu – und das ist eine Katastrophe.“ so Kay Welber von YEP – Stimme der Jugend. Gerade deshalb sei es notwendig, Dialog- und Begegnungsräume zu schaffen, die jungen Menschen eine Stimme geben.

Susanne Wiesinger,Ombudsfrau für Wertefragen und Kulturkonflikte im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung hat 2018 mit ihrem Buch „Kulturkampf im Klassenzimmer“ für Furore gesorgt. Was macht man als Lehrerin, wenn Schülerinnen Angst davor haben, in den Sommerferien zwangsverheiratet zu werden? In derartigen Situationen würden dringend benötigte Maßnahmen und Werkzeuge für Lehrpersonen fehlen. Wiesinger habe gehofft, dass die Probleme endlich angegangen würden werden – stattdessen werde wieder nur in der Wahrnehmungsblase diskutiert. Dabei gehe es um den Schutz und die Rechte der Kinder.

Welche Gesellschaft wollen wir sein? Bei der Beantwortung dieser abschließenden Frage waren sich die Podiumsgäste einig: Die ideale Gesellschaft der Zukunft ist resilient. Sie erkennt, dass es Veränderungen und Vielfalt immer geben wird und empfindet dies nicht als Bedrohung, sondern als Chance. Sie sieht Vielfalt als Motor, nicht als Last. Sie erkennt Realitäten an und geht mit Ängsten offen um. Unsere Gesellschaft braut eine gemeinsame Wertebasis.

Die Impulse und die Kontroverse am Podium können Sie auf Facebook nachsehen.

 

Impressionen

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